Friday, May 20, 2011

Stukkenjagers am Zug. Aufstieg.

Was macht die Faszination einer Endspielstudie aus? Je nach Stil des Komponisten und Geschmack des Richters oder Lösers fallen die Antworten unterschiedlich aus. Manche loben den hohen technischen Gehalt einer präzisen, nahezu choreographierten Gewinnführung. Andere die Intensität, mit der in der Ausgangsstellung kaum ersichtliche Verteidigungs- und Angrifssressourcen aufeinander folgen. Wieder andere ergötzen sich an der problemartigen Ästhetik der Pointe – einer Unterverwandlung, eines Opfers im Schnittpunkt feindlicher Figuren – , oder an der puren Tatsache, dass eine scheinbar verlorene Stellung noch Remis gehalten werden kann, oder eine totremise Stellung noch gewonnen wird.

Der kleinste gemeinsame Nenner besteht jedoch in der Sicht einer Studie als das Ideal einer praktischen Partie. Sie destilliert die Intensität, Originalität und Präzision eines realen Kampfes auf eine fiktionale Miniatur von fünf, zehn oder fünfzehn Zügen, in denen über eine Stellung alles gesagt wird, was zu sagen ist.

Eine weitere Gemeinsamkeit dürfte darin bestehen, dass eine Studie um so höher angesehen wird, je mehr Verteidigungsideen sie bereithält und am Ende überwindet. Das ist nicht anders im praktischen Schach: oberflächlich mag man sich am brillanten Opfer erfreuen, obwohl es nur einen von mehreren Gewinnwegen (und vielleicht noch nicht einmal den saubersten) darstellt; die tiefere Befriedigung gibt jedoch das Nachspielen solcher Partien, in denen beide Seiten auf höchstem Niveau spielen, der Verteidiger dem Remishafen nahe ist und scheinbar unbedeutende Kleinigkeiten am Ende den Ausschlag gegen ihn geben. Viele Partien von Michail Tal und Garri Kasparow sowie einige Duelle aus dem legendären Wettkampf Spasski-Fischer fallen darunter.

Aber selbst in solchen außergewöhnlichen Duellen sind nicht alle Fehlgriffe erzwungen. Analyseengines decken die trivialeren Übersehen unbarmherzig auf und werfen ein kaltes, nüchternes Licht auf die vermeintliche Brillanz der Auseinandersetzung. Was in einer individuellen Schachpartie also selten vorkommt – durchgängige Stringenz und Originalität des Kampfes, subtile Finessen, die große Bedeutung gewinnen – dürfte somit noch seltener auf einen Mannschaftskampf zutreffen, geschweige denn eine ganze Saison. Allerdings ginge es da nicht um den Gehalt der 90 Partien, die jede Mannschaft pro Saison spielt, sondern um die Entwicklung einer Mannschaft über den Verlauf einer Saison: wie sich Kampfesmentalität, Teamgeist und Siegeswillen entwickeln, wie Details im Saisonverlauf große Bedeutung für das Endergebnis gewinnen, und wie eine eigentlich unmögliche Aufgabenstellung – der Aufstieg – erfüllt wird, wo sich anfangs jeder mit dem bloßen Klassenerhalt zufriedengegeben hätte.

Eine solche Studie war die Saison 2010/11 für die erste Vertretung von De Stukkenjagers.

Die Ausgangsposition ist, nach dem knapp verpassten Aufstieg im Vorjahr, denkbar ungünstig: Stammspieler ziehen sich zurück oder wechseln den Verein, andere können nicht alle Spiele bestreiten. Mit einer deutlich verkleinerten und geschwächten Auswahl beginnen wir die Saison, in der wir in nahezu jedem Wettkampf einen oder zwei Ersatzspieler benötigen. Der Anfang – ein Sieg gegen Eindhoven, ein 5-5 gegen DD – ist brauchbar, aber nicht überwältigend. Das Vorspiel der Studie beginnt mit Zügen, die dem gesunden Menschenverstand entsprechen, aber die Lösungsidee im Dunkeln lassen.

Der dritte Spieltag, ein Auswärtsspiel beim Tabellenführer aus Wageningen, erweist sich letztlich als der Schlüsselmoment. Wir spielen mit zwei Ersatzspielern, keiner von ihnen an die Luft der zweithöchsten Spielklasse gewöhnt. So können wir uns über den halben Punkt, den sie zusammengenommen holen, nicht beklagen. Und obwohl mir selbst gegen Jan Timman der Ausgleich gelingt, lassen die verbliebenen Stellungen – unklar, schlecht oder verloren – nichts Gutes ahnen.

In der vierten Stunde dieses Kampfes – noch vor der Episode mit dem Bier – geht jedoch der sprichwörtliche Ruck durch die Mannschaft. Fußballtrainer würden wohl von der Trotzreaktion angesichts eines sportlich ansprechenden, aber organisatorisch von vielen Schwierigkeiten überschatteten Saisonstarts sprechen. Jedenfalls strahlt jeder einzelne Spieler nun viel mehr Präsenz aus, als ob sich der Kampf durch pure Willenskraft gewinnen ließe. Keine einzige Partie geht mehr verloren, auch ein Läuferendspiel mit zwei Minusbauern nicht, während Herman und Frans ihre äußerst komplexen Schwarzpartien gewinnen können. 6-4 und Tabellenführung.

Die folgende Runde zeigt, dass dieser Erfolg keine Eintagsfliege war. Mit großem Einsatz gelingt ein 5-5 gegen den Favoriten aus Sas van Gent. Weiter geht es mit überzeugenden Siegen gegen RSR und Venlo (beide 7-3). Dann aber zeigt sich, dass eine gute Studie die Fähigkeit hat, den Löser durch raffinierte Verteidiungsressourcen zur Verzweiflung zu treiben. Der Wegfall mehrerer Schlüsselspieler in der siebten Runde kann nicht angemessen kompensiert werden, und gegen Zukertort Amstelveen setzt es eine 4-6-Niederlage. Sollte also eine alle Erwartungen übertreffende Saison schließlich mit einer Enttäuschung enden, weil der Forschungsaufenthalt des einen mit dem Skiurlaub des anderen und der Familienfeier eines Dritten kollidiert? Sollte die brillante Lösungsidee letztlich doch nicht funktionieren?

Damit hebt sich die Bühne für das Endspiel der Studie. Es zeichnet sich ein dramatisches Finale ab: nicht weniger als vier Mannschaften stehen mit der gleichen Anzahl an Matchpunkten an der Spitze. Die Brettpunkte müssen also voraussichtlich entscheiden. Nach der vorletzten Runde bleiben nur Sas van Gent und Stukkenjagers übrig, diese aber, um die Spannung auf die Spitze zu treiben, nun auch qua Brettpunkten gleichauf. Würden wir in der letzten Runde genug Schlagkraft aufbringen, um einen hohen Sieg gegen den Utrechter Klub „Paul Keres“ zu landen und den ersten Platz (der Tiebreak spricht zu unseren Gunsten) zu verteidigen?

Das beste Bild für den Verlauf dieses Kampfes entstammt vielleicht nicht dem Schach-, sondern dem Bridgespiel. Abspiel in einem hohen Kontrakt. Beim Anblick des Dummys entgleisen jedoch die Gesichtszüge. Da lag ein Missverständnis vor. Gibt es überhaupt eine Chance, den Kontrakt zu erfüllen? Ja, vielleicht, wenn diese und jene Karte auf der richtigen Seite sitzen, wenn eine Nebenfarbe gleichmäßig verteilt sitzt und freigetrumpft werden kann, wenn ein Verzweiflungsschnitt glückt, wenn die Gegner ihre Chancen vorbeigehen lassen... Viele Wenns also. Aber es bleibt einem sowieso nichts anderes übriges als den eigenen Spielplan auf dieser winzigen Chance zu basieren, die Gegner nichts merken zu lassen, und auf Fortunas Gunst zu vertrauen.

So legt man also das As im Dummy. Rechts fällt eine blanke Honneur. Das eröffnet neue Möglichkeiten, vorwärts nun. Der erste Schnitt glückt, bald auch der zweite. Alles sitzt rund. Die Gegner finden die beste Verteidigung nicht. Während das Spiel entlang des eigenen Plans fortschreitet, schleicht sich Skepsis ein: das sieht alles zu gut aus, um wahr zu sein, wie ein makabrer Scherz des Schicksals, das sich den Gnadenstoß für den letzten Stich aufbewahrt.

So spielt man also im vorletzten Stich auf die König-Bube-Gabel in Dummy zu. Eine 50:50-Entscheidung. Der linke Gegner legt mit stählerner Miene klein. Dann ein Zögern, ein eigentlich nicht mehr erlaubtes Überdenken des einmal gewählten Plans: gibt es wirklich kein Indiz, welcher Gegner welche Karte hält? Schließlich wird der König gesetzt. Nach Sekundenbruchteilen, die wie Ewigkeiten erscheinen, gewinnt dieser den Stich. Alles hat geklappt. Aus. Kontrakt. Vorbei. Versteinerte Mienen der Gegner, während sich Dummys Gesicht mit einem Schlage aufhellt. Das perfekte Spiel ist Wirklichkeit geworden.

Spiele dieser Art eignen sich für ein Double-Dummy-Problem, Abspielaufgaben mit kompletter Information. Es sind Spiele, wo alles exakt passen muss, damit der Kontrakt erfüllt wird. So wie auch dreieinhalb Stunden nach Beginn des Wettkampfes gegen Paul Keres die Chancen auf einen hohen Sieg eher unrealistische Gedankenspiele sind. 0-1 der Anfang, und drei weitere Stellungen sind verloren. Zuerst gehen jedoch die besser stehenden Partien zu Ende. 1-1, 2-1, 3-1, 4-1. Das lief günstig. Zudem beginnt nun die Zeitnotlotterie, in der Fortuna uns günstig gestimmt ist. Statt 4-3 steht es bald 6-1. Sollte das nicht reichen?

Nein, denn die Prognosen im Parallelkampf müssen korrigiert werden: Sas van Gent droht nun 7,5-2,5 oder 7-3 zu gewinnen, statt 6-4 oder 6,5-3,5 wie vor der Zeitnotphase erwartet. Ein Schlag ins Kontor, denn Mark Clijsen verwaltet für uns eine klare Verluststellung. Aber es gibt noch eine Minimalchance. Wenn Maurice sein Turmendspiel mit Minusbauern hält, wenn Herman seine etwas bessere Stellung nicht verliert oder gar gewinnt... Aber ist nicht jedem Schachspieler bekannt, wie wenig man Punkte einplanen kann, wie ein plötzlicher Trick, eine jähe Laune des Zufalls, die Arbeit einer ganzen Saison zunichte machen kann? Das fatale Übersehen, das sich Cor van Dongen im Vorjahr mit dem Sieg vor Augen leistete, ungeachtet einer bis dahin hervorragend gespielten Partie, geistert wie ein Menetekel in den Köpfen herum. Kaum einer hält es mehr oben im Spielsaal aus: man steht unten an der Bar, beruhigt sich mit Bier, telefoniert nervös zum anderen Spielort oder diskutiert das dort entstandene Turmendspiel. Das Material steht in jener Partie gleich, aber die praktischen Chancen unserer Konkurrenten sind groß. Trotz des mittlerweile unterschriebenen Remis bei Maurice wären wir dann auf einen ganzen Punkt von Herman angewiesen. Der ist noch nicht in trockenen Tüchern. Kann Herman, geschwächt und ermüdet von der neuen Vaterrolle, auch nach fünfeinhalb Stunden noch mit voller Konzentration und Willensstärke spielen? Oder wird sich der ungeheure Druck in einem kapitalen Einsteller entladen?

Herman hält durch. Mit 7,5-2,5 gewinnt Stukkenjagers das letzte Match der Saison und steigt über die Tiebreak-Regel in die Meesterklasse auf. Willenskraft und Mut, Kampfgeist und Talent triumphieren schlussendlich über die rein schachlich größere Qualität unserer Seeländer Rivalen, die in ihrem letzten Gefecht ebenfalls Großes leisten, aber nicht genug, um uns noch abzufangen.

Die Studie löst sich thematisch auf. Aber wer hätte diese Pointe, dieses Schlussspiel erwartet, das Ästhetik, Ökonomie und Dramatik in unglaublicher Konzentration vereint? Jeder Stein hat seine Funktion, jeder Spieler seinen unverzichtbaren Beitrag, jeder halbe Punkt seine Geschichte. So trägt nun ein warmer Wind des Schicksals die Stukkenjagers hinauf in die Lüfte, in die höchste Spielklasse. Nächstes Jahr wird sich zeigen, ob sie auch fliegen können.