Saturday, March 27, 2010

Die innere Logik einer Schachpartie

Die Idee der einer Schachpartie innewohnenden Logik und Gesetzmäßigkeit besitzt auf Schachspieler eine große Anziehungskraft. Das ist auf den ersten Blick seltsam, denn ein geistiger Wettkampf zweiter Kontrahenten mit all seinen Zufälligkeiten und Unzulänglichkeiten scheint auf den ersten Blick wenig mit den klassischen Vorbildern innerer Logik, wie Mathematik, bildende Kunst oder Musik, gemein zu haben. Niemand würde ernsthaft eine Schachpartie, wie gehaltvoll sie auch sei, mit der Vierten Symphonie von Brahms oder irgendeinem anderen großen Kunstwerk vergleichen. Und dennoch stehen Schachspieler immer wieder im Banne der Idee, dass eine Partie eine innere Form aufweist, dass sie sich zwangsläufig in eine bestimmte Richtung und zu einem bestimmten Ergebnis hin entwickelt. Das ist nicht zu verwechseln mit der Karikatur einer Schachpartie, die man häufig in Lehrbüchern findet: Spieler A versinnt einen genialen Plan, setzt ihn fehlerlos um, und dem armen Spieler B bleibt nichts anderes übrig, als seinem Gegenüber die Hand zu reichen. Die Idee der inneren Logik einer Schachpartie schließt Fehler nicht aus, ganz im Gegenteil sogar; sie erfordert jedoch, dass sich diese Fehler aus den besonderen Schwierigkeiten einer Stellung ergeben müssen, und nicht, gleichsam zufällig, dem Kampf eine unvorhersehbare Wende geben.

Die Anziehungskraft dieser Idee erklärt auch, warum Schachspieler mit bestimmten Fehlern und Niederlagen besonders hadern: letztere entstehen nicht immer auf natürliche Weise, z.B. indem man den Charakter einer Stellung verkennt und daher einen unangemessenen Plan wählt oder durch das Übersehen einer taktischen Ressource in einem scharfen Zeitnotgefecht. Häufig genug führt mangelnde Konzentration oder Aufmerksamkeit zu einem dummen Fehler, der einen sicheren Vorteil vergibt oder eine spielbare Stellung wegwirft. Die daraus enstehenden Enttäuschungen sind der Erfahrung nach die bittersten und weitaus schwerer zu verarbeiten als glatte Nullen. Wenn Schachspieler über Pech oder Ungerechtigkeit im Spiel sprechen, dann geht es meistens um Partien, denen die innere Logik abgeht, die zufällig entschieden werden, in denen ein einziger Fehler die ganze Entwicklung eines langen Kampfes auf den Kopf stellt. Das vereint sie mit Sportlern anderer Disziplinen, in denen das zufällige, irrationale Element augenfälliger zu Tage tritt: sei es ein Stolpern auf der Schlußgeraden, ein Sturz in der Abfahrt oder eine Pfütze im Rasen.

Eine Enttäuschung dieser Art hielt auch der heutige Mannschaftskampf zwischen De Stukkenjagers und Voerendaal für uns bereit. Cor van Dongen übte mit Weiß gegen Andrey Orlov starken Druck aus und besaß deutlichen Endspielvorteil. Aufgrund der passiven Stellung der schwarzen Figuren schien sogar ein leichter Gewinn im Bereich des Möglichen; Cor wickelte jedoch in ein Turmendspiel mit Mehrbauern ab. Dieses sollte bei genauer Verteidigung zu halten sein. Unter zunehmendem Druck auf der Uhr entschloß sich sein Gegner jedoch, die Ereignisse zu forcieren, was zum Verlust eines zweiten Bauerns führte. Der Mannschaftskampf befand sich zu diesem Zeitpunkt bei einem Stand von 4,5:4,5 auf dem Siedepunkt, und die Anspannung aller Beteiligten war ungeheuer. Mit eineinhalb Minuten gegenüber einer Minute auf der Uhr musste Cor noch seine zwei Mehrbauern verwerten – eine rein technische, aber angesichts einiger taktischer Tricks nicht völlig triviale Aufgabe. Zumindest nicht nach sechs Stunden intensiven Kampfes.

Es schien jedoch, dass Cor sich dieser Aufgabe problemlos entledigen würde, und mehrere Stukkenjagers atmeten innerlich bereits durch. Ich selbst war hingegen noch sehr gespannt, denn wenn eine Mannschaft gegen einen stärkeren Gegner am oberen Limit spielt, die Erwartungen übertrifft und der Sieg zum Greifen nahe ist, ist das schwer zu glauben, als habe man mit Fortuna noch eine Rechnung offen, die vor Ablauf des Kampfes noch präsentiert werden müsse. So auch hier. In folgender Stellung – Weiß: Ke4, Te5, Bg5, h5, Schwarz: Kh7, Th1 – spielte Cor korrekterweise Te7+ und sah nach dem Antwortzug Kg8, dass der Bauer h5 hängt. Daraufhin spielte er nicht Kf5 mit schwarzer Aufgabe, sondern h5-h6, worauf die zufällige, jedes Plans, jeder Absicht entbehrende Ressource Te1+ den Kampf sofort entschied. Allerdings zu Ungunsten des Weißen und der gesamten Stukkenjagers, denen der beinahe sicher geglaubte Aufstieg aus den Händen glitt.

Nun ließe sich aus der Erfahrung sagen, dass gerade diese dramatischen Wendungen häufiger passieren, als man denkt, gerade in wichtigen Situationen am Ende eines Wettkampftages. Die Irrationalität eines solchen Partieschlusses wäre demnach nur scheinbar und ließe außer Acht, dass letztlich nur Menschen mit begrenzten Kräften und Fähigkeiten am Brett sitzen, Akteure, die geradezu zwangsläufig unter Druck etwas übersehen würden. Das Bild der inneren Logik einer Schachpartie wäre demnach zu sehr am Ideal rationaler, gottgleicher Spieler orientiert.

Wer so argumentiert, macht vielleicht einen intellektuellen Punkt, übersieht aber, dass es gerade dieses Ideal ist, dass die Faszination einer guten Schachpartie ausmacht: sie lässt die Spieler inspiriert und perfekt erscheinen. Dies glückt natürlich in der Praxis häufig nur in einzelnen Partiephasen, und um so wertvoller sind diejenigen Partien, die trotz oder gerade wegen hartnäckigen gegnerischen Widerstands Struktur und Kohärenz besitzen, in denen ein Vorteil konsequent vergrößert, transformiert und schließlich verwertet wird. Sie sind es, an die man sich auch nach Jahren erinnert. Cors Partie war so ein Beispiel – gegen einen 150 Punkte höher bewerteten Gegner spielt er eine Partie wie aus einem Guß, und die einzige wichtige Frage scheint zu sein, ob der Vorteil zum Gewinn ausreicht oder nicht. Dass am Ende dieser Partie ein Ergebnis steht, das zu keinem einzigen Zeitpunkt zur Debatte stand, und das letztendlich den äußeren Umständen einer Turnierpartie mit dem Druck auf der Uhr und imKopf geschuldet ist, macht die besondere Bitterkeit dieser Niederlage aus. Im Fußball weiß man, das ein Glücksschuss jäh das Geschick wenden kann, im Schach ist man geneigt, dies zu vergessen, auch deshalb, weil es unterm Strich seltener geschieht. Aber wenn es doch einmal passiert, dann erkennen sowohl Perfektionisten als auch Praktiker die Tragik des Geschehens, und selbst die glücklichen Sieger fühlen das Zufällige ihres Erfolgs und feiern ihn mit verhaltener Freude, als gelte es, für eine wunderbare Rettung zu danken.

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